Das 'Glück' in der Moderne
Michael Seibel • Materialien zum Philosophietreffen am 2.11.2016 (Last Update: 27.10.2016)
Glück ist seit jeher einer der wichtigsten Kandidaten für eine
plausible Begründung ethischer Urteile.
„Verhalte dich so, dass du weder dein eigenes Glück noch
das Glück anderer gefährdest, sondern es idealerweise
beförderst.“
Könnte
das ein Satz sein, auf dem sich eine verbindliche Ethik aufbauen
lässt?
In
der Idee der Ethik wird gedacht, dass nicht der eine oder
andere Mensch diese oder jene Ansichten darüber hat, welches
Verhalten unter Menschen gut und welches schlecht ist oder dass
irgendeine Form von Herrschaft – und sei es die beste nur
denkbare – den Einzelnen durch Gesetze die Grenzen des
Verhaltens vorschreibt, sondern dass die Menschen grundlegend die
Fähigkeit mitbringen, gut und böse zu unterscheiden und
sich grundsätzlich untereinander frei darüber zu
einigen. Der Philosoph hat demnach Vorschläge zu machen
und zu begründen, auf welchem Weg eine solche Einigung ablaufen
könnte und worauf sie inhaltlich hinauslaufen könnte.
Wie
man weiß, ist dieses Geschäft der Ethik tausende Jahre alt
und, wie es scheint, unabschließbar. Denn ständig
kompliziert sich die Bestimmung des Unterschieds von gut und böse
in ganz unterschiedlichen geschichtlichen Situationen. Ist eine
Tötung im Krieg zu bewerten wie ein Tötung im Frieden, eine
befohlene wie eine eigenvorsätzliche, eine Enthauptung wie ein
Drohnenangriff? Das Verbindende bei den ganz unterschiedlichen
Versionen von Ethik, die im Laufe der Zeit vorgeschlagen worden sind,
ist unglaublich schwer zu benennen. Wir nennen es abendländische
Rationalität.
Glück
ist wie gesagt auch heute wieder einer der wichtigsten Kandidaten für
eine plausible Begründung ethischer Urteile.
Dazu
müsste man wissen, was unter Glück eigentlich zu verstehen
ist. Da ist vieles möglich.
Typische
Grundaussagen über das Glück, ob bei Hobbes, Pascal, den
schottisch-englischen Empiristen des 18. Jahrhunderts, Kant, den
Utilitaristen oder Schopenhauer sind, wenn auch in unterschiedlicher
Akzentuierung: Alle Menschen streben nach Glück. Glück kann
nicht zielgerichtet bewirkt werden. Glück ist subjektiv. Glück
ist quantifizierbar und verrechenbar.
Wir
haben es heute mit einem doppelten Subjektivismus des Glücks zu
tun. Doppelt: erstens finden unterschiedliche Menschen in
unterschiedlichen Episoden ihr Glück. Zweitens entscheidet nur
jeder Einzelne darüber, ob, wann und inwiefern er sich glücklich
nennt oder nicht.
Und
dennoch ist eine Position offensichtlich widersinnig, die behaupten
würde, eine ethischen Entscheidung könne richtig sein,
selbst dann, wenn durch sie die gesamte Menschheit unglücklich
würde.
Dass
mit der Frage des Glücks ein ethisches Areal betreten wird, wird
bereits alltäglich sichtbar. Etwa bei Trennungen von
Lebensgemeinschaften, bei denen der Anspruch auf persönliches
Glück in Widerspruch mit selbst eingegangenen Verpflichtungen
treten kann. Wenn sich jemand um des eigenen Glücks wegen
trennt, gibt er seinem eigenen Glück einen ethischen
Stellenwert. Und wenn heute bei Ehescheidungen nicht mehr nach
Schuldgesichtspunkten entschieden wird, dann wohl auch deshalb, weil
dem persönlichen Glücksanspruch stillschweigend ein
erheblicher ethischer Wert zugemessen wird, weil ein persönlicher
Glücksanspruch in einem gewissen Umfang als Entschuldigung
akzeptiert wird.
Glück
und Ethik sind zwei wie auch immer dissonant zusammengehörige
Ideen.
Nun
kann man über Glück naheliegenderweise auf der Ebene von
Psychologie reden. Und so wird auch zumeist darüber gesprochen.
Man trifft dann z.B. auf all die empirisch erfragbaren persönlichen
Präferenzen. Aber bereits die simpelste Präferenz verweist
auf die Sozialbeziehungen der Phantasie (Wir wissen das alle: Wer
auch nur einmal die Kö rauf- und runterläuft, sieht das
sofort). Etwas anderes ist es, über Glück aus ökonomischer
Sicht zu reden.
Was
würde es also im Unterschied zu all diesen Perspektiven heißen,
über Glück nicht als Psychologe, Soziologe, Ökonom,
Geschichtswissenschaftler oder Ethnologe zu reden, sondern als
Philosoph?
Es
hieße, sich durch die empirische Mannigfaltigkeit des Glücks
hindurch die Frage zu stellen, ob der Begriff Glück
ein Grundbegriff des Denkens über ethische Fragen sein kann, so
wie für Kant die Begriffe Gott, Welt, Mensch, Freiheit oder
Vernunft transzendentale Leitbegriffe waren.
Darauf
möchte ich hinaus. Heidegger hat einmal in einer Vorlesung über
Schelling gesagt, die Freiheit, das sei nicht eine Eigenschaft des
Menschen, sondern der Mensch, das sei eine Eigenschaft der Freiheit.
Und das werde ständig mißverstanden, wenn wir fragen, wie
frei der Mensch sei.
Das
Glück philosophisch zu befragen, ist etwas Ähnliches.
Vielleicht ist auch das Glück nicht eine Eigenschaft des
menschlichen Lebens, sondern das Menschliche am menschlichen Leben
eine Wirkung unseres Anspruchs auf Glück. Das wäre so etwas
wie ein transzendentales Verständnis von Glück bei aller
empirischen Unterschiedlichkeit, was einzelne Leute persönlich
glücklich macht und wie sicher oder unsicher sie dabei sind,
sich selbst als glücklich zu bezeichnen.
Wenn
das so wäre, dann gehörte das Glück in die Reihe der
ethischen Grundbegriffe.
Also:
im ersten Schritt möchte ich den Begriff des Glücks
ent-trivialisieren. Dazu habe ich eine Reihe von Zitaten zu den
unterschiedlichen Facetten des Glücks zusammengestellt, über
die wir reden sollten.
Das Glück zwischen Eudaimonia, Freiheit und Wohlfahrt
Statements zu einem Begriff
Schopenhauers Wohnzimmerglück:
„Der rasche Übergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch macht das Glück aus.“
(Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung )
„Da aber keine Befriedigung dauernd, sondern nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens ist, so zeigt sich schon in dieser Ziellosigkeit ... die Negativität alles Glückes.“
(Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung )
„Das Glück ist negativer Natur, d. h., es ist nur die Befriedigung eines Wunsches, die Aufhebung einer Entbehrung, die Stillung eines Schmerzes.“
(Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)
„Dies zeigt sich daran, dass wir der Güter und Vorteile, welche wir besitzen, Gesundheit, Jugend, Freiheit, Reichtum, gar nicht als solcher inne werden, sondern erst nachdem wir sie verloren haben.“
(Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung )
„Im Guten wie im Schlimmen kommt es weniger darauf an, was einem begegnet, als wie man es empfindet.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena )
„Der innere Reichtum ist die Hauptsache. Von andern hat man nicht viel zu erwarten; am Ende bleibt doch jeder auf sich selbst angewiesen.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena )
„Das Glück gehört denen, die sich selber genügen. Alle äußeren Quellen desselben sind unsicher und vergänglich.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena )
„Der normale Mensch ist, hinsichtlich des Genusses des Lebens, auf Dinge außer ihm angewiesen, auf Besitz, Rang, Familie; sein Schwerpunkt fällt außer ihm. Beim Geistreichen fällt derselbe schon zum Teil, beim Genialen ganz in ihn.“
(A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena )
„Geistige Fähigkeiten sind die Hauptquelle des Glücks. Die geistigen Genüsse sind die anhaltendsten, mannigfaltigsten und größten. Der Geistreiche bedarf zum Glück nichts weiter als freie Muße.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena )
„Nicht dass die Nachwelt von einem erfahre, sondern dass in ihm sich Gedanken erzeugen, welche verdienen, aufbewahrt zu werden, ist ein hohes Glück.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena)
„Moralische Trefflichkeit beglückt unmittelbar, indem sie tiefen Frieden des Innern und beruhigte Stimmung gibt.“
(Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik )
„Das Wesentlichste für das Glück ist ein aus vollkommener Gesundheit hervorgehendes ruhiges und heiteres Temperament, ein klarer Verstand, ein sanfter Wille und demnach ein gutes Gewissen. Besonders wichtig ist die Gesundheit; 9/10 unseres Glücks beruhen auf dieser.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena)
„Alles Glück beruht nur auf dem Verhältnis zwischen unseren Ansprüchen und dem, was wir erhalten.“
(Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)
„Das größte Glück ist eine schmerzlose Existenz. Um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, dass man nicht verlange, sehr glücklich zu sein.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena)
„Geringe Zufälle vermögen den, dem es gut geht, vollkommen unglücklich zu machen; vollkommen glücklich, nichts auf der Welt.“
(Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)
„Der Neid ist der Feind unseres Glückes; wir sollten öfter die betrachten, welche schlimmer daran sind als wir, denn die, welche besser daran zu sein scheinen.“
(Schopenhauer, Parerga und Paralipomena)
„Unsere unmittelbare Teilnahme am anderen ist auf sein Leiden beschränkt und wird nicht direkt durch sein Glück erregt.“
(Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik )
Skeptiker des Glücks:
„Der Begriff der Glückseligkeit (ist) ein so unbestimmter Begriff, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden.“ (Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Theorie-Werkausgabe Bd. VII, Ffm. 1964, S. 47.)
Radikalisierungen:
„Ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen (…), es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich überleben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den 'Greueln': obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich Ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.“
(I. Kertéz, Roman eines Schicksallosen) (Größer als hier kann man sich den Spannungsbogen dessen, was mit dem Begriff Glück sich sagen läßt, kaum vorstellen.)
„Seine eigene Glückseligkeit sichern ist Pflicht (wenigstens indirekt), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden.“
(I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten)
„Ich glaube, dass sich das Optimum des gesellschaftlichen Funktionierens definieren läßt, und zwar aufgrund einer bestimmten Beziehung zwischen dem Bevölkerungswachstum, dem Konsum, der individuellen Freiheit, der Möglichkeit des Vergnügens für einen jeden.“
(M. Foucault, Von der Subversion des Subjekts)
„Ich bin mit meinem Leben glücklich, nicht so sehr mit mir selbst.“
(M. Foucault)
„Unser Leben wollen wir zu einer großen wunderbaren Dichtung, aus uns selber wollen wir ein neues Kunstwerk gestalten.“
(Heinrich und Julius Hart)
„Der VW Käfer: ...er läuft und läuft und läuft...“ (Werbung, 60er-Jahre)
„Was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglich-künstliche kleine Maschine, die in der großen Maschine, die wir Welt,Weltgegebenheiten, Weltläufe nennen, besser oder schlimmer hineinpasst. (…) Aber heißt das gelebt? Heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbständige Existenz, den Funken von Gott? Ha, er muß in was Besserem stecken, der Reiz des Lebens (…) Das lernen wir daraus, dass diese unsere handelnde Kraft nicht eher ruhe, nicht eher, nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz zu handeln. (…) Seligkeit, Seligkeit, Göttergefühl das!“
(J.M.R. Lenz, Über Götz von Berlichingen)
„Die Menschheit ist eine Gattung, die über ein Nervensystem verfügt, mit dem sie ihr eigenes Funktionieren bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann. Und es ist klar, dass diese Kontrollmöglichkeit fortwährend die Idee nahelegt, die Menschheit müsse auch einen Zweck haben. Diesen Zweck entdecken wir in dem Maß, in dem wir unser eigenes Funktionieren kontrollieren können. Aber so stellen sich die Dinge ganz verkehrt dar. (…) Tatsächlich hat die Menschheit keinen Zweck, sie funktioniert. (…) Die Rolle des Philosophen (...) besteht heute vielleicht darin aufzuweisen, dass die Menschheit die Möglichkeit eines Funktionierens ohne Mythen zu entdecken beginnt.“
(M. Foucault, Von der Subversion des Wissens)
„Ich sagte, daß (...) er mich doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers.
Er versetzte, daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen. (…) Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. (...) so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“
(H. v. Kleist, Über das Marionettentheater)
„Nicht Jammer über Mechanisierung, sondern Freude über Präzision.“
(O. Schlemmer, 1926)
„Ich
betrachte mich als eine Sowjetfabrik, erbaut, um Glück zu
produzieren.“
(W. Majakowski, Gedichte)
„Die
Zerstörung der Individualität ist identisch mit der
Ertötung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen,
von sich aus etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt
und Geschehnissen nicht erklärbar ist. Was danach übrig
bleibt, sind jene unheimlichen, weil nicht wirklichen, mit
menschlichen Gesichtern ausgestatteten Marionetten, die sich alle
benehmen wie der Pawlowsche Hund.“
(H. Arendt, Elemente und
Ursprünge totaler Herrschaft)
„Zu
Hause nach eigener Vorstellung reprogenetisch behandelte Kinder zu
bekommen, wird vielleicht eines Tages ein ebenso beliebtes Hobby sein
wie heute das Desktop-Pubishing.“
(Freeman J. Dyson, Die Sonne,
das Genom und das Internet)
„Es
ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den
Lebenszweck setzt.
Dies
Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang
an; an seiner
Zweckdienlichkeit
kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der
ganzen
Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist
überhaupt
nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben
ihm; man möchte
sagen,
die Absicht, daß der Mensch »glücklich« sei,
ist im Plan der »Schöpfung« nicht
enthalten.“
(S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur)
„Hauptsache,
ihr habt Spaß“ (Mediamarkt 2016)
„Daß
das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht
in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann dein Leben
verändern. Und paßt es in die Form, dann verschwindet das
Problematische.“
(Ludwig Wittgenstein)
„Vor
den Augen der Leute, die an den endlosen Komplikationen des Lebens
müde geworden sind und denen der Zweck des Lebens nur als
fernster Fluchtpunkt in einer unendlichen Perspektive von Mitteln
auftaucht, erscheint erlösend ein Dasein, das in jeder Wendung
auf die einfachste und zugleich komfortabelste Art sich selbst
genügt.“
(W. Benjamin)
Dieses
„einfache, aber ganz großartige Dasein“ führt
beispielhaft nur einer, so Benjamin, nämlich „Mikey-Maus“
„Es
gibt einen zweifachen Glückswillen, eine Dialektik des Glücks.
Eine hymnische und eine elegische Glücksgestalt. Die eine, das
Unerhörte, Niedagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Die andere:
das ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen
ersten Glücks.“
(W. Benjamin)
„Die
Schönheit des Halses und die Rundungen der Hüfte wirken auf
die Sexualität nicht als geschichtslose bloß natürliche
Fakten, sondern als Bilder ein, in denen alle gesellschaftliche
Erfahrung lebt und die Intention auf das, was anders ist als Natur,
die nicht aufs Geschlecht beschränkte Liebe. Zärtlichkeit
aber, die unkörperlichste noch, ist verwandelte Sexualität,
das Streichen der Hand übers Haar, der Kuß auf die Stirn,
die den Wahnsinn der geistigen Liebe ausdrücken, sind das
befriedete Schlagen und Beißen beim Geschlechtsakt der
australischen Wilden.“
(Adorno)
„Dieser
Mann (…), dieser mit einer tätigen Einbildungskraft
begabte Einsame, der die große Wüste des Menschen
unablässig durchwandert, hat ganz gewiß ein höheres
Ziel als das des bloßen Flaneurs, ein noch allgemeineres Ziel
als das augenblickliche Schauvergnügen. Er ist nach etwas auf
der Suche, das die Modernität zu nennen man mir erlauben möge
(…). Für ihn geht es darum, der Mode das abzugewinnen,
was sie im Vorübergehenden an Poetischem enthält, aus dem
Vergänglichen das Ewige herauszuziehen. (…) Die
Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das
Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere das
Ewige, das Unwandelbare ist. Keiner hat das Recht, dieses
vergängliche, flüchtige Element, das so einem häufigen
Wandel unterliegt, zu verachten und beiseite zu schieben. Wenn man es
unterschlägt, verfällt man unweigerlich der Leerheit einer
nichtssagenden abstrakten Schönheit (…); denn fast unsere
gesamte Originalität rührt von dem Stempel her, den die
Zeit unseren Empfindungen aufdrückt.“
(Ch. Baudelaire,
Der Maler des modernen Lebens)
„Für
wie selbstsüchtig man den Menschen auch halten mag, es gibt
nachweislich einige Grundlagen seines Wesens, die dazu führen,
dass er sich für das Schicksal anderer interessiert, deren Glück
ihm notwendig erscheint, obwohl er nichts davon hat außer dem
Vergnügen, es zu sehen."
(Adam Smith, Die Theorie der
ethischen Gefühle)
„Keine
Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der
weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist."
(Adam Smith, The Wealth of Nations)
„Viele
Menschen wissen, dass sie unglücklich sind. Aber noch mehr
Menschen wissen nicht, dass sie glücklich sind.“ (Albert
Schweitzer)
„Menschen
zu finden, die mit uns fühlen und empfinden, ist wohl das
schönste Glück auf Erden.“ (Carl Spitteler)
„Die
höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen
Grad an Verrücktheit.“
(Erasmus
von Rotterdam)
„Der
Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer tut das.“
(Nietzsche)
„Die
>allgemeine Wohlfahrt< (…) kein Ideal, kein Ziel, kein
irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel.“
(Nietzsche)
„Sich
selbst erhalten wollen ist der Ausdruck einer Notlage, eine
Einschränkung des eigentlichen Lebens-Grundtriebes, der auf
Machterweiterung hinausgeht.“ (Nietzsche)
„Wir
haben das Glück erfunden - sagen die letzten Menschen und
blinzeln.“ (Nietzsche)
„Trachte
ich denn nach dem Glücke? Ich trachte nach meinem Werke.“
(Nietzsche, Werke (Schlechta) II, 561)
„Nicht
das Glück folgt der Tugend, sondern der Mächtigere bestimmt
seinen glücklichen Zustand erst als Tugend.“(Nietzsche,
Werke (Schlechta) III, 420)
„Wir
treiben Sozialpolitik nicht, um Menschenglück zu schaffen“,
betont Max Weber – und warnt davor, „positives
Glücksgefühl im Wege irgend einer sozialen Gesetzgebung zu
schaffen“. „Ich bin überzeugt, dass das Quantum
subjektiven Glücksgefühls mit der Hebung der Massen, die
wir als unumgängliche Aufgabe vor uns sehen, nicht zunehmen,
sondern wahrscheinlich abnehmen wird. Das Quantum des subjektiven
Glücksgefühls ist größer bei geistig tief
stehenden, stumpf resignierten Volksschichten, (…) größer
bei Tieren als bei Menschen“
(Max
Weber, Gesamtausgabe, I, 4/I, 339 f.).
„DOKTOR:
Ich hab's gesehn, Woyzeck; er hat auf die Straß gepißt,
an die Wand gepißt, wie ein Hund.- Und doch drei Groschen
täglich und die Kost! Woyzeck, das ist schlecht; die Welt wird
schlecht, sehr schlecht!
WOYZECK:
Aber, Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.
DOKTOR:
Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab' ich nicht
nachgewiesen,daß der Musculus constrictor vesicae dem Willen
unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem
Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit.-
Den Harn nicht halten können! (Schüttelt den Kopf, legt die
Hände auf den Rücken und geht auf und ab.)
Hat
Er schon seine Erbsen gegessen,Woyzeck? Nichts als Erbsen,
cruciferae, merk Er sich's!Es gibt eine Revolution in der
Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff, salzsaures
Ammonium, Hyperoxydul – Woyzeck, muß Er nicht wieder
pissen? Geh Er einmal hinein und probier Er's!
WOYZECK:
Ich kann nit, Herr Doktor.
DOKTOR
mit Affekt: Aber an die Wand pissen! Ich hab's schriftlich, den
Akkord in der Hand! - Ich hab's gesehen, mit diesen Augen gesehen;
ich steckt' grade die Nase zum Fenster hinaus und ließ die
Sonnenstrahlen hineinfallen, um das Niesen zu beobachten. - (Tritt
auf ihn los:) Nein, Woyzeck, ich ärgre mich nicht; Ärger
ist ungesund, ist unwissenschaftlich.Ich bin ruhig, ganz ruhig;mein
Puls hat seine gewöhnlichen sechzig,und ich sag's Ihm mit der
größten Kaltblütigkeit. Behüte, wer wird sich
über einen Menschen ärgern, ein' Mensch! Wenn es noch ein
Proteus wäre, der einem krepiert! Aber, Woyzeck, Er hätte
nicht an die Wand pissen sollen -
WOYZECK:
Sehn Sie,Herr Doktor, manchmal hat einer so 'en Charakter, so 'ne
Struktur. - Aber mit der Natur ist's was anders, sehn Sie; mit der
Natur (er kracht mit den Fingern),das is so was, wie soll ich sagen,
zum Beispiel...
DOKTOR:
Woyzeck, Er philosophiert wieder.“
(G.Büchner,
Woyzeck)
„Geschichte,
das ist die „Schlachtbank (…) auf welcher das Glück
der Völker (…) zum Opfer gebracht wird.“
(G.W.F.
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte)
„Die
Welt ist das System des Grauens. Aber darum tut ihr noch zu viel Ehre
an, wer sie ganz als System denkt.“
(Adorno)
„Nicht
bloß die objektive Möglichkeit – auch die subjektive
Möglichkeit zum Glück gehört erst der Freiheit an.“
(Adorno, Minima Moralia)
Kurz kommentierte Literatur
Bei der Beschäftigung mit dem Thema habe ich drei recht
unterschiedliche Arbeiten zur Kenntnis genommen.
Dieter
Thomä, vom Glück in der Moderne (Frankfurt 2003)
Er stellt fest, dass das Thema Glück in der Neuzeit aus zwei ganz
bestimmten sich überkreuzenden Leitperspektiven gesehen worden
ist, aus Sicht des Problems der Selbsterhaltung und dem
der Selbstbestimmung. Entsprechend dieser
Doppelperspektive ordnet Thomä die verschiedenen Theoriegebilde,
die das Thema des Glücks in der Moderne theoretisch entwickelt
haben und geht sie im einzelnen durch, wobei mir seine einzelnen
Beiträge von sehr unterschiedlicher Qualität zu sein
scheinen. Seine Ausführungen zu Adorno und Heidegger fand ich
enttäuschend.
Immerhin
finde ich sein Sortierung entlang der Begriffe Selbsterhaltung
und Selbstbestimmung im ersten Schritt angesichts der großen
Heterogenität des unter den Begriff Glück Gefaßten
hilfreich. Thomä reklamiert eine kritische Funktion des Glücks,
die Möglichkeit nämlich, über dieses Thema zu einer
Revision des Verständnisses der Moderne und des Begriffs der
Subjektivität zu kommen. Das kann ich nachvollziehen, es scheint
mir aber durch Thomäs Arbeit nicht geleistet.
Was
mir freilich sehr gut gefällt sind die Zitate, die er anführt.
Die meisten der obigen Zitate fand ich in Thomäs Buch. Er hat
das Talent, durch seine Auswahl dem Thema Raum zu verschaffen.
(Thomä
ist Philosophie-Professor in St. Gallen)
Robert Pfallers Buch Wofür
es sich zu leben lohnt, Elemente materialistischer Philosophie (Frankfurt 2011) war
das nächste Buch, das ich in Vorbereitung auf das Thema
durchgesehen habe. Dabei reizte mich die Aussicht auf eine
materialistischer Philosophie des Glücks. Pfaller ist offenbar
ein großer Žižek-Fan. Aus dieser Richtung stammen eine Reihe
von Argumenten, mit denen ich etwas anfangen kann. Ich beschränke
mich auf zwei Beispiele:
»Die
Individuen verfügen nicht über die Gesamtheit ihrer
Lustbedingungen. So, wie zum Beispiel in einer kapitalistischen
Produktionsweise die unmittelbaren Produzenten nicht über die
Gesamtheit der notwendigen Produktionsmittel verfügen, haben
auch auf dem Feld des Ästhetischen die Konsumierenden nicht alle
Ressourcen zur Disposition, die sie zu ihrer Lust benötigen. Sie
brauchen etwas, das sie nur von der Gesellschaft erhalten können
— nämlich das Gebot, sich der Lust hinzugeben. Die Kultur
wirkt hier nicht hemmend oder einschränkend als Verbot,
gegenüber vermeintlich ungehemmten Begierden. Vielmehr verhält
es sich genau umgekehrt. Die Individuen brauchen das kulturelle
Gebot, Lust zu finden. Gehemmt sind sie selber.«
„Nun
kann man wohl ohne große Übertreibung feststellen, dass
wir diese Art von Genüssen, in denen etwas Ungutes zur Quelle
triumphaler Lust wird, nicht nur längst kennen, sondern dass
sie für uns sogar die Gesamtheit dessen bilden, wofür es
sich überhaupt zu leben lohnt. Ohne die Verrücktheiten der
Liebe, die uns gerade die sperrigen Eigenschaften geliebter Personen
anbeten läßt; ohne die Unappetitlichkeiten und
Schamlosigkeiten der Sexualität; ohne die Unvernunft unserer
Ausgelassenheiten, Großzügigkeiten, Verschwendungen,
unserer Geschenke, Feierlichkeiten, Heiterkeiten und Rauschzustände
wäre unser Leben eine abgeschmackte Abfolge von Bedürfnissen
und — bestenfalls — ihrer stumpfen Befriedigung; eine
vorhersehbare, geistlose Angelegenheit ohne jegliche Höhepunkte,
die insofern mehr Ähnlichkeit mit dem Tod hätte als mit
allem, was den Namen des Lebens verdient.“
(Pfaller ist Philosophie-Professor in Linz)
Als
drittes und letztes stieß ich auf einen Aufsatz von
Dieter
Birnbacher
Link: Dieter Birnbache 'PHILOSOPHIE DES GLÜCK'
Er
fragt eingangs, ob eine "Philosophie des Glücks"
überhaupt möglich ist. Er erinnert dabei an das negative
Urteil Kants (s.o.).
Birnbacher
mahnt an, dass zu unterscheiden ist, „was die Menschen suchen,
wenn sie Glück suchen,“ und „worin sie das Glück
finden, wenn sie es finden.“
Und
er warnt aus gutem Grund vor Generalisierungen.
„So hat etwa im heutigen Europa die
Dimension der Religion und der Religiosität für das
persönliche Glück gegenüber den vorigen Jahrhunderten
stark an Bedeutung verloren, während sie in den meisten anderen
Regionen der Welt an Bedeutung zugenommen hat. Kennzeichnend für
die gesamte westliche Welt ist die enge Verbindung, die zwischen
Glück und Leistung gesehen wird. Der "Königsweg"
zum Glück wird in produktiven und schöpferischen
Tätigkeiten und im kraftvollen Annehmen und erfolgreichen
Meistern von Herausforderungen gesehen. In Afrika ist die
vorherrschende Glücksauffassung fast genau umgekehrt gepolt.
Wichtiger ist hier das In-Ruhe-gelassen-Werden und die Abwesenheit
von Konflikten.“
Mit
Schopenhauer fällt ihm das sogenannte "Glücksparadox"
auf: „die Unmöglichkeit, Glück direkt strebend zu
erreichen“. Man wird nur schwer dadurch glücklich, dass
man versucht, glücklich zu werden. Glück entzieht sich
einer direkten Intention. Happiness braucht immer auch etwas luck
oder fortuna.
Zur
Begriffsbestimmung von Glück unterscheidet er episodisches
Glück von periodischem Glück,
Glück
als Stimmung von Glück als Urteil ex post.
„Periodische und insbesondere
"übergreifende" Selbst- und Fremdzuschreibungen von
Glück oder Unglück sind in viel höherem Maße als
Urteile über aktuelle Empfindungen und Stimmungen kognitiven und
affektiven Verzerrungstendenzen ausgesetzt: der illusionären
"Verklärung" der Vergangenheit, der Verdrängung
unangenehmer oder peinlicher Vorkommnisse, der depressiven
Verdüsterung der Erinnerungen oder schlicht der Überbewertung
der jeweils letzten und deshalb am lebendigsten haften gebliebenen
Phase.“
Drei
klassische Glückstheorien, die Glücksgütertheorie,
die Glücks-Hedonismus und die Wunscherfüllungstheorie,
werden nach seinem Dafürhalten durch den heutigen doppelten
Subjektivismus des Glücksbegriffs unhaltbar.
Mit
doppeltem Subjektivismus des Glücksbegriffs meint er, dass sich
heute Wertvorstellungen praktisch von Mensch zu Mensch unterscheiden
und dass das Urteil, ob man selbst glücklich ist, nur vom
Betroffenen selbst vorgenommen werden kann.
Der
Subjektivität der Kriterien für Lebensqualität wird
heute in der Medizin immer stärker Rechnung getragen. (z.B.)
„Im
Zuge eines erfolgreichen coping-Prozesses können
sich die Bedürfnisse und Erwartungen eines Kranken so "nahtlos"
an seine objektiven Lebensbedingungen anpassen, dass es ihm subjektiv
besser geht als im gesunden Zustand zuvor.“
("Zufriedenheitsparadox")
Andererseits
stehe der doppelte Subjektivismus des Glücksbegriffs unter
Ideologieverdacht, denn „echtes Glück“ dürfe,
wie von manchen gefordert wird, nicht illusionär sein, sondern
müsse in der Realität verankert sein, es dürfe nicht
selbstinduziert, manipuliert oder unethisch sein und dürfe nicht
auf schlichtes Unwissen über die eigene reale Lage zurückgehen.
Ich
meine: die Bedeutung des Themas Lebensqualität in der
Medizin spricht allerdings dafür, dass ein philosophischer
Diskurs über das Glück auch heute vorstellbar ist, denn ein
mit ethischen Argumenten geführter Diskurs findet offenbar
bereits statt.
Hier
verketten sich Glück und Ethik.
(Birnbacher war bis 2012 Philosophie-Professor in Düsseldorf)
weiter ...
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.